Esch Belval Hochöfen

Transforming Experiences Kulturhauptstadt Esch2022

4 Minuten

Wilde kleine Schwester

Reiseziel(e): Minett

Worum geht es?

  • Umbruch in Esch-Belval: Industriegebäude werden zu Uni-Gebäuden, Hochöfen zu Skulpturen.
  • Esch: Mix aus Alt und Neu, von Industriellen-Villen bis zu Arbeitersiedlungen. Moderne Architektur trifft Tradition.
  • Gespräch mit Chrissi, die im Minett geboren ist und für „Esch2022“ arbeitet
  • Esch bedeutet Transformation und Vielfalt, ist offen und divers.

Die Hochöfen sind erloschen, aber heiß ist es in Esch/Alzette noch immer! Rockkonzerte, Street-Art, Theater und der allgegenwärtige Umbau der Industrieanlagen machen die Stadt zum alternativen Geheimtipp.

„Mein Opa hat uns immer von der Arbeit mit den feuerspeienden Drachen und stählernen Monstern erzählt! Von der unglaublichen Hitze in der Fabrik. Und von dem roten Schimmern, das immer und immer am Himmel zu sehen war. Tag und Nacht. Wie ein nie enden wollender Sonnenuntergang. Gleichzeitig wunderschön und Zeugnis der harten Arbeit, die die Männer im Minett zu tun hatten.“ Chrissi ist im Minett geboren. Während wir ihr zuhören, schauen wir auf genau die Hochöfen, von denen ihr Großvater so plastisch erzählen konnte. Wir treffen die junge Frau im Büro von „Esch2022“ im Stadtviertel Belval, wo sie als „Volunteer Coordinator“ für die Europäische Kulturhauptstadt arbeitet.

Unser Esch-Guide Chrissi, „Volunteer Coordinator“ für „Esch2022“ hat zum Glück keine Höhenangst. Hier geht sie über die 110 Meter lange Fußgängerbrücke aus der Feder des Architekturbüros Metaform, dessen Entwürfe mit ihrer futuristischen Ästhetik auch bei der Weltausstellung in Dubai für Furore sorgen. Die Brücke führt am Bahnhof in luftiger Höhe über die Zuggleise. Sie verbindet das Stadtgelände per Lift mit dem höher gelegenen Park „Galgenberg“.

Erloschene Öfen, heiße Leidenschaft

Wir stehen auf der Dachterrasse der provisorischen Büros und blicken über das Viertel. Hier ist alles im Umbruch. Industriegebäude werden zu Bibliotheken. Hochöfen zu Skulpturen. Körperliche Schwerstarbeit müssen hier vor allem noch die Mitglieder diverser Rockbands leisten. Wenn zwischen den erloschenen Feuern der Hochöfen von Belval die Musik aus den Lautsprechern einheizt, dann kocht das Blut. Nicht mehr der Stahl. Was für eine Kulisse für Luxemburgs größte Veranstaltungshalle, die „Rockhal“!

Szenenwechsel: Wir verlassen Belval und fahren ins Zentrum von Luxemburgs zweitgrößter Stadt. Esch an der Alzette könnte kaum typischer sein für eine ehemalige Bergbauregion. Viertel mit ehemaligen Industrieellen-Villen wechseln sich ab mit Arbeitersiedlungen. Ehemaliger Reichtum blitzt hinter zerbrochenen Glasscheiben und wucherndem Efeu auf, wo der Verfall noch morbidschön voranschreiten darf. Ultramoderne Neubauten, Reste alter Herrenhäuser, hübsch renovierte Reihenhäuschen: Selbst mitten im Zentrum findet man noch einen solchen Mix aus Alt und Neu, aus Verfallen und Renoviert.

Rund um die Kulturfabrik, kurz Kufa, entstehen seit Jahrzehnten kreative Werke made in Luxembourg. In den Gebäuden des ehemaligen städtischen Schlachthofs findet man auf 4.500 Quadratmetern zwei Veranstaltungsräume, eine Galerie, ein Kino, eine Brasserie, ein Bistro und Proberäume. Hier trifft man kreative Köpfe wie den Regisseur des Films „Super-GAU – Die letzten Tage Luxemburgs“. Julien Becker ist in Esch geboren, hat in Paris studiert und genießt es heute, in seiner Heimat als Filmemacher schöpferisch tätig zu sein.

Escht cool

Wer diese Stadt im Wandel in ihrer ganzen geschichtsträchtigen, „abgebrochenen“, sich wandelnden Schönheit erleben will, sollte sich beeilen! An allen Ecken und Enden wird renoviert und gebaut. Die Aufbruchsstimmung kurz vor dem Kulturhauptstadtjahr ist etwas ganz Besonderes, aber noch gibt es sie, die „Lost Places“. Vor einem dieser verlorenen beziehungsweise verlassenen Orte schießen wir ein paar Portraitfotos von Chrissi. Im Hintergrund: offen liegender Backstein, armdicke Efeustämme. Über uns: Tauben, die ganz selbstverständlich die obere Etage der Ruine in Beschlag genommen haben und gurrend durch die fensterlosen Rahmen ein- und ausfliegen. Vis-a-vis eines der ultramodernen Wohnhäuser mit Glasbalkonen und Tiefgarage, und um die Ecke die nagelneue Jugendherberge mit ihrer bunten Fassade.

Zwischen der ganzen verrückten Architektur wuselt ein Publikum, das durch die Gastarbeiter früherer Generationen noch diverser ist, als man es in Luxemburg ohnehin kennt. Unsere Stadtführerin leitet uns durch ein Labyrinth aus graffitibesprühten Bauzäunen und Bistrotischen, die sich pandemiebedingt wie Flechten weit in die Fußgängerzone und Bürgersteige ausbreiten. Ein französisch-deutsch-italienisch-portugiesisch-englisches Stimmengewirr ist der Soundtrack unseres Spaziergangs. Auf dem Rathausplatz spielen Kinder im Wasser des Springbrunnens.

Kunst, Kultur und Krempel

Kurzerhand schreiben wir einen der Künstler über Instagram an. Wir sind auf der Suche nach einem ganz speziellen Werk, einer Collage, die wir in den sozialen Netzwerken auf der Seite „ICICESTESCH“ entdeckt haben. Prompt antwortet der angeschriebene Lāscār: „Ihr sucht die Ausstellung ‚Bâtiment 4‘!“ Na dann, nichts wie hin! Chrissi kennt natürlich den Weg.

„Bâtiment 4“ ist eine kollektive Ausstellung und schon die sechste dieser Art, welche einmal im Jahr in abbruchreifen oder renovierungsbedürftigen Gebäuden in Esch stattfindet. Als wir ankommen, sind die Türen verschlossen. Der Ausflug lohnt sich dennoch: Rund um die alte Villa sind zusätzliche Kunstwerke zu bestaunen. Zwei Kleinwagen sind so zusammengeschweißt, dass sie wie ein rostiges Liebespaar aufeinander liegen. Malereien bedecken jede Wand, und diverse Skulpturen stehen etwas „unentschlossen“ in der Wiese. Im Hintergrund ein ehemaliges Ausbildungszentrum der Stahlindustrie. Jetzt wirkt es wie das Set zu einem Bladerunner-Film. Aber man erkennt noch die ehemalige Absicht, architektonisch auf der Höhe der Zeit zu sein. Was man vor sechzig Jahren eben modern fand. Jetzt ist es einfach nur ein weiteres abbruchreifes Gebäude. Wir nehmen uns vor, in ein paar Jahren wiederzukommen, um zu sehen, was die Stadtplaner sich für dieses Riesengrundstück ausgedacht haben werden.

Das Escher Theater bietet in seinem Inneren die ideale Kulisse für große Schauspielkunst. Es ist intimistisch, aber nicht beengt, mit einer fast mystischen Ausstrahlung. Durch die dunkle Farbgebung lässt der Raum der Handlung und den Protagonisten den Vortritt. Das Programm des Gastspiel- und Produktionstheaters zeichnet sich durch eine große Sprachen-Varietät aus, denn die Zuschauer kommen auch von jenseits der Landesgrenzen.

Kulturfabrik

Nur einen Abbruchsteinwurf entfernt ist die gelungene Transformation schon abgeschlossen. Willkommen in der Kulturfabrik. Auf dem Areal des ehemaligen Schlachthofs kann man heute der Escher Kulturszene beim Arbeiten zusehen. Das Kulturzentrum unterstützt einheimische und regionale Künstler, fördert Talente, künstlerische Tätigkeiten und organisiert pädagogische Projekte. Außerdem engagiert es sich für grenzüberschreitende Projekte und will Motor für nachhaltige Entwicklung sein. In den – natürlich wieder graffitigeschmückten – Gebäuden sind Ateliers, Veranstaltungsräume, eine Kunstgalerie, ein Kino, Proberäume und ein Restaurant untergebracht. Ein buntes, wuseliges Gesamtkunstwerk, dem man auch ohne konkreten Anlass – wie es zum Beispiel eine Aufführung oder Vernissage wäre – einen Besuch abstatten sollte. Vielleicht quatscht man ja mit einem der Bewohner über die Schönheit der Welt. Und über die Schönheit der Erneuerung. Des Upcyclings, um mal einen Modebegriff zu bemühen. Während man, vor einem ehemaligen Schlachthaus sitzend, genüsslich in seinen veganen Burger beißt.

Hier haben zwei „alte Haudegen“ der Sprayerszene ihre Spuren hinterlassen. „Stick“ und „Spike“ arbeiten buchstäblich Hand in Hand. Ihre Ideen und Motive ergänzen und befruchten sich und werden, wie hier, zu einem Gesamtkunstwerk. Die Struktur der Mauer wurde dabei bewusst mit eingebracht.

Um die Ecke gedacht

Wir trauen unseren Augen nicht: In einem Hinterhof stapeln sich die Container. Wie Spielzeugsteine scheinbar wahllos aufeinandergestellt. Der Putz wird aus Schilf gewonnen. Werden Balken gebraucht, so bedient man sich an recyceltem Bauholz, welches beim Abbruch alter Gebäude anfällt und von den Baustellen in der Nähe stammt. Kreislaufwirtschaft, wie sie im Buche steht. Eine riesige Villa Kunterbunt entsteht. Ein gigantischer Second-Hand-Neubau. Türen, Fenster, Geländer: alles unterschiedlich in Form und Farbe und alles aus zweiter Hand. Ausschließlich Abfall und Naturmaterialien sind erlaubt! Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ist geplant, im entstehenden Restaurant ausschließlich „gerettete“ Lebensmittel zu verarbeiten. Lebensmittel, die Schönheitsfehler haben und von den großen Handelsketten verschmäht werden. Hier, im Benu-Village, wo ohnehin alles krumm und schief ist, nimmt man sie gerne, die siamesischen Gurkenzwillinge oder die zu hellen Auberginen.

Auch, wenn nicht überall in Esch auf Zero Waste geachtet wird, eine Art überdimensioniertes Upcycling-Projekt könnte man die Region aber vielleicht doch nennen. Die auf Hochglanz polierten Hochöfen in Belval, die liebevoll restaurierten Fabrikgebäude, die Naherholungsgebiete der renaturierten Tagebaue im Umland: Stets wird das Alte nicht einfach plattgemacht, sondern integriert. Aufgewertet. Man ist stolz auf die Geschichte und Geschichten der Großelterngeneration.

In der Kult-Kneipe „Pitcher“ hängen die alten holzvertäfelten Wände übervoll mit USA-Devotionalien. Rapper Corbi schätzt die Atmosphäre. Er macht „Old School Hip Hop“; New Yorker Schule auf Luxemburgisch.

Bloß nicht „absacken“

Zum Abschluss treffen wir Corbi. Geboren in Niederkorn, ist er im Süden mit den Sounds von Cypress Hill und Wu Tang Clan aufgewachsen. Seine Texte rappt der Fan der New Yorker Schule aber auf Luxemburgisch, „anders würde es einfach nicht gut klingen“, sagt er trocken und grinst. Der Rapper führt uns auf einen Absacker in die Kult-Kneipe „Pitcher“. Unter antiken Harley-Davidson-Werbetafeln und Tabasco-Saucen-Blechschildern sitzend, schlürfen wir genüsslich an unseren Bieren. Die komplette Schnauze eines alten Chevrolet Impala hängt unter einem riesigen Pepsi-Kronkorken an der Wand und glotzt neugierig in den Raum. In dieser Kneipe fallen alle Standesschranken (von denen hier im Süden ohnehin niemand etwas wissen will), und nach dem einen oder anderen alkoholischen Getränk diskutiert man auf- und angeregt die News der Stadt. Durchaus hitzig.

Im Vergleich zu der sehr aufgeräumten, fast schon perfekten Hauptstadt ist Esch an der Alzette die kleine ungezogene Schwester: etwas jünger, etwas wilder, etwas frecher und etwas unaufgeräumter. Und auf jeden Fall – auch, wenn die Hochöfen erloschen sind – auch etwas heißer!

In Esch auf Tour

© André Schösser
Centre Culturel Kulturfabrik
Hier wachsen Talente heran!
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Jugendherberge Esch/Alzette
BarrierefreiInnerorts gelegenWLANRestaurant
Konschthal Esch
In einem der multikulturellsten Viertel von Esch gelegen, wurde dieses riesige ehemalige Möbelgeschäft 2020 von der Stadt erworben und ist heute der führende Raum für zeitgenössische Kunst in der Region. Mit einer Gesamtfläche von fast 2.400 m2 verfügt die Konschthal über Ausstellungsräume auf vier Etagen. Die Ausstellungen werden gemeinsam mit international renommierten Künstler*innen kuratiert, die diesen außergewöhnlichen Raum nutzen, indem sie entweder ortsspezifische Installationen bauen oder Arbeiten präsentieren, die einen zeitgenössischen Kommentar zur Industriegeschichte der Stadt darstellen.
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© Pancake! Photographie
Pitcher
Kultbar in Esch-sur-Alzette
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